Wenn Wunden heilen: Wie ein niederländisch-deutsches Dorf das Kriegs-Trauma zum EU-Traum macht

Journalistischen Beitrag zu europäischen Projekten von Katharina Kunert

Wenn die „grauen Eminenzen“ durch Dinxperwick radeln, schallt es „Hoi“ von der einen Straßenseite und „Hallo“ von der anderen.
Die Grauen Eminenzen von Dinxperwick, das sind nicht etwa Figuren aus einem Märchen – auch wenn die folgende Geschichte als solches anmuten mag.

So bezeichnen sich scherzhaft die vier Männer, die 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Grenzgeschichte schreiben: Werner Brand (Bürgerinitiative Dinxperwick), Thomas Venhorst  (Projekt-Koordinator der Kreishandwerkerschaft), Freek Diersen (Heimatverein Dinxperlo) und Johannes Hoven (Heimatverein Suderwick). Sie sorgen maßgeblich dafür, dass aus den beiden Dörfern Suderwick (Deutschland) und Dinxperlo (Niederlande) „Dinxperwick“ wird – denn als eine untrennbare Einheit fühlen sich die Gemeinden: Trotz Grenze mitten durch ihr Herz. Heute erinnern nur noch kleine, gelbe Kreuze auf der Straße an den Grenzverlauf, deren Farbe vom Regen so verwischt ist, wie die Erinnerung der Dinxperwicker an eine Zeit vor den offenen Grenzen.

Doch diese dunkle Zeit – man glaubt es angesichts des heute regen Austauschs kaum – gab es.

Der Suderwicker Johannes Hoven bringt sein Holland-Rad bei einem kleinen Pavillon im Herzen der Dorfs zum Stehen. Seine Miene verfinstert sich, als er mit einer Armbewegung die Grenz-Narbe seines Heimatortes nachzeichnet: „Nach dem Zweiten Weltkrieg erbauten die Alliierten hier einen Grenzzaun. Freunde wurden getrennt, Familien zerrissen“, sagt er. Zu groß sei das teilweise berechtigte Misstrauen gegenüber der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg gewesen. Das Problem: Suderwick war nie rein deutsch, Dinxperlo nie rein niederländisch: „Seit Jahrhunderten lebten die Bevölkerungen nicht nur neben, sondern vor allem mit einander“, erklärt Venhorst. Fast jeder habe Verwandte und Freunde auf der anderen Seite. Doch die Jahrhundertkatastrophe des brutalen Krieges schien plötzlich zu überschatten, was seit Ewigkeiten Realität gewesen war: „Wir sind eins, uns verbindet mehr, als uns trennt.“

Wenige hundert Meter weiter finden sich an einer Hauswand Spuren der Trennung, deren klare Umrisse in aller Deutlichkeit ins Gedächtnis rufen, dass das Trauma kein Traum war: Die Initialen A.S. sind neben vielen weiteren in eine rote Backsteinwand geritzt. Daneben die Jahreszahlen 41/42. „Die Spuren der deutschen Soldaten“, erklärt Diersen, während er seine Finger über die Einkerbungen gleiten lässt.

Im Mai 1940 hatte Nazi-Deutschland die Niederlande überfallen, die Grenzregion war plötzlich voller junger deutscher Soldaten. Die Rache folgte nach Kriegsende: Weite Teile der Grenzregion, so auch Suderwick, gingen als „Ausgleich für entstandene Schäden“ in Niederländisches Gebiet über, Suderwick-West wurde plötzlich zu einer Art Vorläufer des Modells „West-Berlin“ der späteren DDR-Zeit: Umschlossen vom Gebiet des ehemaligen Feindes und vom Grenzzaun. Der Metallzaun bestand bis 1949, der Sonderstatus Suderwicks gar bis zur Rückgabe des Gebiets an Deutschland 1963.

Erst da begannen die Kriegswunden der ehemals unzertrennlichen Gemeinde langsam zu heilen. Und das nicht etwa durch Bemühen der Politik – sondern der Vereine. Dinxperloer Sportvereine begannen, ihre Suderwicker Pendants zu Turnieren einzuladen, die Feuerwehr startete lebensrettende Kooperationen, später auch die Polizei.

Diese kleinen angezündeten Lichter der Annäherung wurden zu Hoffnungsfackeln, heute gilt Dinxperwick als Leuchtfeuer der europäischen Solidarität.
Die Dinxperloer trinken Wasser aus Deutschland, das Abwasser der Suderwicker Haushalte wird aber in der Kläranlage von Dinxperlo gereinigt. Deutsche Kinder können die „Basisschool“ in Dinxperlo besuchen, Schulen auf beiden Seiten lehren die Sprache des angrenzenden Landes.

„Die beiden Gemeinden haben nach einer harten Zeit der Trennung wieder gelernt: Sie können und wollen nicht ohne einander“, so Venhorst – der aufgrund dieser Erkenntnis plötzlich eine Vision hatte:

Dinxperwick, bereits eine Art Versuchslabor für die europäische Idee, sollte durch EU-Fördermittel in seiner Vision noch weiter voran gebracht werden.
Gerade recht kam da das Projekt-KRAKE: Das deutsch-niederländische Kooperationsprojekt, dessen Name für „Krachtige Kernen/Starke Dörfer“ steht, entstand durch das INTERREG VA -Programm Deutschland – Niederlande und wurde aus Mitteln der Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) kofinanziert.

Insgesamt 1.884.851 Euro investierte die EU während der Laufzeit von 2016 bis 2019 in das Projekt, das die Zukunftsfähigkeit von Dörfern sichern sollte – doch lohnte sich das auch?

„Auf jeden Fall“, sagt Brand. „Seit ein paar Jahren erleben wir, wie junge Menschen, die zum Studieren oder für die Ausbildung aus den Orten wegzogen, nun zurück kommen.“ Ein reges Vereinsleben und vom Dorf durchgeführte Projekte seien Lebenszeichen und diese wiederum ein Anziehungsfaktor für die Generation von morgen.

Und an Projekten mangelt es seit KRAKE nicht:
Während der Projektzeit entstand durch die finanzierten Bürger-Initiativen eine gemeinsame Dinxperwicker Internetpräsenz, das zweimal jährlich stattfindende Festival DinxperwickSwingt, Seniorennachmittage und diverse andere kreative Projekte – wie ein Märchenspielplatz für Kinder.

Das Symbol für eine märchenhafte Auferstehung der europäischen Solidarität auf der Asche eines Weltenbrands? Ohne Zweifel – als Pionier der europäischen Idee kann sich Dinxperwick dies ohne zu zögern auf die Fahne schreiben.

Doch kein Märchen ohne Moral: Während ein Weltkrieg und der Ausbruch der Maul-und-Klauen-Seuche vor 20 Jahren es schafften, dass Dinxperwick in der Mitte durch Zäune zerschnitten wurde, hat sich die Lage nun verändert. Trotz der internationalen Corona-Krise stand Anfang 2020 außer Frage, ob das Grenzdorf getrennt würde: Die Grenze blieb wie selbstverständlich offen. „Die EU lernt dazu“, sagen die vier Dinxperwicker und lachen.

Dazulernen – das ist es, was Dinxperwick uns lehrt: Wenn aus Feinden Freunde und aus Trauma Traum werden kann, dann hat die Europäische Union ihr Werk getan. Dann ist europäische Solidarität plötzlich mehr als nur eine Worthülse.

Artikel hier publiziert mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

 

Historische Fotos:
Niederländischer Grenzzaun 1914-1918
Deutscher Stacheldrahtzaun 1939-1945

Aktuelle Fotos (@Joop van Reeken/GrenzBlickAtelier):
Der Grenzmarkt am Heelweg/Hellweg in 2016
Dinxperwick-Schild